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Trauer um Renate Neeman

Stolpersteine für die Familie Berg, verlegt von Gunter Demnig am 3. März 2024. Foto: Hartmut Häger.

Seit diesem Frühjahr erinnern fünf Stolpersteine an Renate Neeman (geborene Berg) und ihre Familie in der Bahnhofsallee 32. Die Tochter des 1938 aus Hildesheim vertriebenen Anwalts und früheren Vorstehers der jüdischen Gemeinde Hildesheims, Dr. Eduard Berg, ist – wie nun – bekannt wurde am 8. August im Alter von 98 Jahren in Cincinnati, USA, gestorben.

Renate Neemans Vater Dr. Eduard Berg wohnte und arbeitete seit 1905 als Rechtsanwalt und Notar in Hildesheim. Im Ersten Weltkrieg verlieh man ihm das Eiserne Kreuz und beförderte ihn zum Vize-Feldwebel. Seit 1922 war er Vorsteher der Jüdischen Gemeinde, von 1924 bis 1929 Bürgervorsteher, also Ratsherr, der Stadt Hildesheim. An der Goetheschule, die Marie-Luise, seine Tochter aus erster Ehe, 1933 mit Abitur verließ, unterrichtete er nebenberuflich Rechtskunde.

Auch Renate Neemans Mutter, Erna Berg geborene Koopmann, kam aus einer angesehenen Familie. Seit dem 18. Jahrhundert war sie in Berne ansässig. Ihr Urgroßvater, Großvater, Vater und ihr Bruder Louis waren Vorsteher der Jüdischen Gemeinde. Sie selbst hatte in Hamburg Sozialpädagogik studiert und war in Oldenburg in der Mündelfürsorge tätig. 1923 heiratete sie den früh verwitweten Eduard, am 18. Februar 1926 brachte sie Renate zur Welt. 1936 wurde die Zehnjährige am Marien-Lyzeum angemeldet, weil die Goetheschule schon vor 1933, aber besonders danach, jüdischen Schülerinnen das Leben schwermachte. Acht jüdische Mitschülerinnen hatten bei den Ursulinen Zuflucht gefunden.

Neeman ging von der Marienschule mit Beginn der Sommerferien 1938 als Quartanerin ab, um ihren Eltern, die wenige Wochen vorher wegen der unmittelbar drohenden Verhaftung ihres Vaters aus Deutschland geflohen waren, ins holländische Exil nach Amsterdam zu folgen. Ihre 77-jährige Großmutter Sara Koopmann, die vor der Verfolgung in Berne bei ihren Hildesheimer Angehörigen Schutz gesucht hatte, blieb zurück und wurde sechs Jahre später in Theresienstadt ermordet.

Als ihr Vater Ende 1942 bei einer Nachtrazzia in seinem Amsterdamer Wohnviertel festgenommen wurde, gelang es Renate Neeman, ihm im letzten Augenblick Fotokopien ihres Arbeitsausweises und ihrer persönlichen Kennkarte mit dem Stempel: „Der Inhaber dieses Ausweises ist bis auf Weiteres vom Arbeitseinsatz freigestellt“ zuzustecken. Die Papiere retteten ihn vor der Internierung in Westerbork und der Deportation in eines der Vernichtungslager. Von da an ging die Familie „auf Tauchstation“. Renate Neeman überlebte die Zeit der deutschen Besatzung als Zwaantje Diekema, später als Luca Cornelia Rossers in der Obhut von zwei Familien in Amersfort, ihre Eltern versteckten sich im Haus der Holländischen Studentenverbindung ‚Unica‘ in Amsterdam, Reguliersgracht 38.

Nach der Befreiung wanderte Renate Neeman im Frühjahr 1946 mit einem jüdischen Kindertransport in die USA aus, wo bereits die inzwischen verheiratete Marlise lebte und wo sie bald darauf auch mit ihren Eltern wieder zusammenfand. Ihr Vater starb schon 1951, ihre Mutter 1967. Dr. Renate Neeman war in ihrer neuen Heimat als promovierte Psychologin 45 Jahre lang in der Forschung und Lehre tätig, unter anderem an der New Yorker Staatsuniversität in Buffalo. Schwerpunkt ihrer Arbeit war die Entwicklung von Therapien für neurologisch und körperlich Behinderte. 1960 heiratete sie Moshe Neeman, mit dem sie 49 Jahre verheiratet war und vier Kinder bekam. Bevor sie 2014 nach Cincinnati zog, war sie Sprecherin des Holocaust Resource Center in Buffalo, NY.

In Hildesheim war Dr. Werner Seidler mit Dr. Renate Neeman befreundet – er hatte sie während seiner Arbeit an der Dissertation über die Hildesheimer Gymnasien in der Zeit des Nationalsozialismus kennengelernt. Besonders verbunden war sie mit Berne, wo 2007 die „Memoiren aus der Tauchzeit“ ihrer Mutter erschienen. 2010 ehrte sie die Stadt Hildesheim mit einem Eintrag in das Goldene Buch. Nun ist mit Dr. Renate Neeman die letzte in Deutschland geborene Familienangehörige gestorben.

Nachruf von Dr. Hartmut Häger, Initiator des Hildesheimer Stolperstein-Projekts